Seit dem ersten europäischen Beratungsboom der 60er-Jahre optimieren sich die strategischen Beratungshäuser stetig. Dies sichert ihnen durch alle Krisen hindurch immer wieder den unternehmerischen Erfolg. Diese Optimierung bringt jedoch Nebeneffekte mit sich, die nachhaltig wirken und schwer umzukehren sind: eine sehr homogene Beraterschaft (siehe Teil II) und eine Projekt-Praxis, die auf eine immer weitere Beschleunigung der Arbeit und Maximierung der Auslastung ausgerichtet ist. Dies rückte bestimmte Herangehensweisen so stark in das Zentrum der Geschäftstätigkeit, dass andere dadurch fast ersatzlos verdrängt wurden. Welche das sind und warum diese Entwicklung für Mittelstands-, Organisations- und Umsetzungskompetenz (Change) so verhängnisvoll ist, lesen Sie in dieser zweiteiligen Artikelserie.
Premiumberater: Instrument des Top-Managements
Projekte sollen unter immer höherem Zeitdruck teils riesige Umstruktu-rierungen oder neue Strategien planen. Die Premiumberater sind schon lange vor allem Werkzeug für das Top-Management geworden, das sehr schnell überzeugende Antworten auf solche großen unternehmerischen Fragen liefern soll. Das Management der Kunden steht häufig unter akutem Rechtfertigungsdruck von Anteils-eignern, inkl. hoch kritischer Hedge-Fonds, institutioneller Investoren, Medien und Öffentlichkeit. Schnell glaubhafte Lösungen zu präsentieren, ist vor allem aus der subjektiven Sicht des Managers extrem notwendig: Für ihn geht es schlicht darum, den eigenen Job zu behalten.
Zwei Ansprüche stehen deshalb über vielen anderen: die Geschwindigkeit, mit der die Antworten erarbeitet werden, und die „Verkaufbarkeit“ der erarbeiteten Konzepte gegenüber allen primären Rechtfertigungsebenen.
Die kurzfristige Außenwirkung dominiert die Projekt-Praxis
Es passt nur bedingt in diese „Effizienzwelt mit Tunnelblick“, unterschiedliche interne Stakeholder-Perspektiven einzunehmen oder Kompromisse bzgl. dieser dominanten Ziele zu machen. Andere Perspektiven und Ansprüche, wie ein tieferes Verständnis für Mitarbeiter, deren Kompetenzen und Ansprüche oder die kulturellen Rahmenbedingungen der Organisation, sind maximal Nebenbedingungen der Konzeption – und rutschen spätestens immer dann vom Tellerrand, wenn sie mit den Kernzielen kollidieren.
Premiumberater können Change nicht
Der Mythos, den die Premiumberater begründen und pflegen, heißt: Mit genügend Beratern und Nachtschichten kann jede Konzeption beliebig beschleunigt werden. Das ist natürlich Unsinn und jede/r, die/der Erfahrung mit Organisationsentwicklung und Change hat, weiß wie falsch diese Aussage wirklich ist. Diese Aussage belegt vielmehr: Premiumberater haben keine Erfahrung mit Change!
Beratungshäuser haben durch ihre kopflastigen Partner-Organisationen (mit teils recht anachronistischen Statuserwartungen) hohe interne Kosten. Dies macht die eigenen hohen Tagessätze irgendwann zum Problem. Nicht nur, dass der Zeitdruck auf diesen Projekten durch die hohen Kostenbelastungen und teilweise aufwendigen Verhandlungen bis zur Beauftragung häufig weiter (unnötig) erhöht wird. Die hohen Tagessätze führen auch schon lange dazu, dass Premiumberater keine wirkliche Umsetzung mehr betreiben (dürfen). Doch wer keine Umsetzung macht, verliert auch schnell die Sensibilität für die Erfordernisse und Rahmenbedingungen, die individuell durch eine Organisation an die Konzeption, deren Umsetzbarkeit und damit den Erfolg des Projektes gestellt werden.
Wer eine Organisation verändern will, muss sie verstehen. Aber wer den Change nie selbst durchfährt, verliert die Fähigkeit, Organisationen zu verstehen.
Folge: Premiumberater verstehen Organisationen nicht
Geht es wirklich nur darum, die Anteilseigner, Aufsichtsräte etc. ruhigzustellen, bieten die Premiumberater heute eine perfekt zugeschnittene Dienstleistung. Aber soll eine Organisation tatsächlich effizient und erfolgreich in die Zukunft geführt werden, ist die heutige Praxis teils sehr kontraproduktiv. Denn die Zeit, die man während der Konzeption durch diese endlose Beschleunigung gewinnt, verliert man um ein Vielfaches in der Umsetzung.
Und man verliert nicht nur Zeit: Organisationskonzepte, die auf die dargestellte Weise entstehen, ignorieren auch die Individualität von Mitarbeiterschaft sowie die Unternehmenskultur. Dadurch gefährden sie die Effizienz der Arbeit, die Zufriedenheit der Mitarbeiter und schaffen bzw. vertiefen die Gräben zum Management. Dies wieder zu beheben, kann immens aufwendig werden. Speziell in Zeiten der digitalen Transformation gefährdet dies die Steuerbarkeit und damit die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens.
Organisations- und Changekompetenz sind keine Hygienefaktoren, sondern zentrale Erfolgsfaktoren!
Das Verständnis für die Individualität einer Organisation, sowie die Fähigkeit, diese zu verstehen und in Konzeption und Change-Planung zu berücksichtigen, sind zentrale Kompetenzen einer modernen und zielorientierten Beratungsdienstleistung. Erfolgskritischer Teil der Herausforderung, Organisationen zu verändern, ist immer auch, dem Top-Management das eigene Unternehmen in seinen internen Strukturen, Kompetenzen und Limitierungen verständlich zu machen.
Es ist die große Ausnahme und eigentlich nur im Mittelstand zu finden, dass das Management selbst ein ausreichendes Verständnis für die informale Organisation und die Unternehmenskultur unterhalb der Führungsetagen mitbringt. Ohne intensiv mit den Menschen im Unternehmen zu reden und einen empathischen Zugang zu dessen Kultur zu bekommen, versteht man weder Ausgangspunkt noch Anspruch jeder organisatorischen Veränderung.
Eine Organisation versteht man nicht im Vorstandsbüro
Der Elfenbeinturm der Berater ist wahrlich kein Arbeitnehmerklischee und genau hier liegt der neuralgische Punkt, an dem sich diese gemeinsame Distanz des Managements und seinen Beratern zur Belegschaft langfristig negativ auswirkt: Selbst eklatante Mängel in der Konzeption fallen häufig erst sehr spät auf. Das Konzept und dessen Präsentation mögen noch perfekt wirken – die Defizite zeigen sich nach der Implementierung, wenn die erhofften Wirkungen nicht eintreten. Dann wächst der interne Unmut: Verstehen „die da oben“ denn gar nichts von Mitarbeitern, Arbeitskultur und tatsächlichen Herausforderungen?
Nun mag man meinen, die großen Beratungshäuser sollten in ihrer Fähigkeit zur Selbstanalyse und dank der eigenen Kernkompetenz für strategische Neuausrichtungen diese Problematik lange erkannt und beseitigt haben. Vor allem deshalb, weil die geringen Umsetzungsquoten erarbeiteter Konzepte und die zusätzlich geringe Beteiligung an der Umsetzung schon seit geraumer Zeit Themen in der Branche sind.
Doch so einfach ist das nicht. Der einleitend erwähnte Optimierungsprozess hat nicht nur die Dienstleistung optimiert. Auch die Beraterschaft hat sich immer mehr an die Anforderungen angepasst und sich damit auf bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten sowohl beim Recruiting als auch beim „Up or Out“ konzentriert. Bei diesem Prozess sind jedoch andere individuelle Fähigkeiten sukzessive verringert worden.
Die Sozialökonomie spricht von einer Reproduktion des Sozialraums (Autopoiese): einer Selbstverstärkung der Typen und Werte. Wie die Mechanismen dahinter aussehen und was dies für den heutigen Berater-Typus bedeutet, lesen Sie im zweiten Teil dieser Artikelserie.
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