Der sich über die Jahrzehnte verstärkende Fokus der Premiumberater auf die Bedürfnisse des Top Managements hat zu einer Dominanz bestimmter Berater-Typen und Arbeitsweisen geführt (siehe Teil I). Diese sind gleichzeitig Startpunkt für eine "Reproduktion des Sozialraums", welche die Tendenzen zur Homogenisierung der Beraterschaft so weit verstärken, dass dieser heute bestimmte Fähigkeiten fast vollständig abhanden gekommen sind. Vor allem bei der Analyse und Veränderung von Organisationen (Change) macht sich diese Einseitigkeit mittlerweile sehr deutlich bemerkbar; und fast jedes Beratungsprojekt ab einer bestimmten Größe hat eine wichtige organisatorische Dimension.
Was fehlt? Einen erfolgreichen Change zu planen und durchzuführen bedarf vor allem der Fähigkeit, sich als Berater in Organisation und Mitarbeiter hinein zu versetzen, dadurch deren Herausforderungen von innen zu verstehen und wirksame, von den Mitarbeitern akzeptierte Lösungen entwickeln zu können. Die zentrale persönliche Fähigkeit dabei lautet Empathie. So individuell wie die Herausforderungen müssen dabei auch die Lösungen sein, um Wirksamkeit und Umsetzbarkeit zu gewährleisten. Kreativität - in der Bedeutung von Innovationsfähigkeit - ist eine zweite wichtige Eigenschaft für einen erfolgreichen Change, noch mehr in Zeiten der Digitalisierung. Nicht nur sind diese Eigenschaften heute in den Beratungen wenig vertreten, es fehlt vor allem an Wertschätzung dafür.
Die grundsätzliche These, die hier vertreten und erläutert werden soll, heißt also:
Der Fokus auf das Top Management rückt Geschwindigkeit und Außenwirkung der Konzepte in den Fokus (Teil I)
Ansprüche der tatsächlichen Wirksamkeit und Umsetzbarkeit treten bei Organisations- und Change Konzepten hinter diese Ansprüche zurück (Teil I)
Individuelle Eigenschaften der Berater - wie Empathie und Kreativität - die Wirkung und Umsetzbarkeit sicherstellen würden, werden deshalb nicht gesucht (II)
Über die Zeit haben sich diese Eigenschaften durch Reproduktion immer weiter verstärkt, so dass die Homogenität der Beraterschaft zum Problem wurde
Unternehmensberatungen als Sozialraum (Theorie)
Die Sozial- und Verhaltenswissenschaften sind in der Beratungsindustrie sehr wenig vertreten und deren Modelle und Methoden deshalb weder üblich noch bekannt. Diese sind jedoch genau auf solche Veränderungen von Sozialräumen geeicht und bieten viel Erklärungskraft für diese Entwicklungen. Ein rudimentärer Ausflug sei deshalb erlaubt:
Die Industrie der Unternehmens-berater kann als Sozialraum verstanden werden. Deren Arbeits-kultur (Projekt-Praxis) definiert als Habitus dieses Umfeld.
Sozialräume bestehen aus Akteuren. Diese finden sich bspw. aufgrund ähnlicher Eigenschaften (Werte, Ziele. etc) zusammen und bilden dadurch diesen Raum.
Jeder Sozialraum verändert sich kontinuierlich, u.a. durch Hinzutreten neuer oder Verlassen alter Akteure. Ebenso verändern sich diese Akteure fortlaufend durch die Zugehörigkeit zum Sozialraum. Dieser Prozess nennt sich Autopoiese.
Vor allem diese Entstehung und Reproduktion (Autopoiese) des Sozialraums der Premiumberater interessieren hier, bestimmen sie doch welche Typen und Eigenschaften die Beraterschaft heute definieren und damit auch deren besondere Stärken … und eben auch Schwächen.
Der Sozialraum der Unternehmensberater (Praxis)
Als Sozialraum im obigen Sinne kann jedes einzelne Projekt, jedes Beratungsunternehmen oder auch die gesamte Branche gewählt werden. Ein Sozialraum reproduziert sich vor allem dadurch, dass das Hinzutreten und Verlassen reguliert wird. Das Hinzutreten regelt das Recruiting. Das Verlassen das Up-or-Out Prinzip bzw. die Selbstselektion, also eine freiwillige und bewusste Entscheidung der Verlassenden.
AKTEURE_Typen-Selektion: Wer wird Berater?
Es sind ganz bestimmte Eigenschaften und Leistungen, welche Studierende und Absolventen in den Fokus der Premiumberatungen treten lassen, um die neue Generation der High Potentials zu stellen. Gesucht sind starke Analytiker mit hervorragenden akademischen Leistungen, einem Talent zum Unternehmertum und einer guten Breitenbildung. Persönlichkeiten sind gesucht, mit Potenzial die CEOs oder Start Up Helden von morgen zu werden.
Doch über diesen plakativen Profil-Anforderungen steht ein weiterer sehr dominanter Anspruch: Die gesuchten Berater müssen sich vor allem in die existierende Arbeitskultur (Habitus) einfügen und schnell produktiv und effizient werden.
Die Praxis schafft sich die Berater, die Berater schaffen sich die Praxis. (= "Autopoiese")
HABITUS_Projekt-Praxis: Wer bleibt Berater?
Projekte sind jedoch stark hierarchische Umfelder, in denen es vor allem in den Lehrjahren gilt, Leistungs- und Leidensfähigkeit zu beweisen, also lange Stunden unter hohem Zeitdruck zu arbeiten. Eine große Beratung hat Ihre Zielgruppe intern deshalb mal als „insecure outperformer“ bezeichnet. Formbar müssen die jungen Berater also ebenfalls sein, denn Herangehensweise und Dienstleistung sind klar definiert und wenig offen für Reflexion. Das notwendige Selbstbewusstsein entwickelt sich schon mit steigernder Erfahrung und das "Up-or-Out" selektiert gezielt, wo dies nicht geschieht.
Dieser permanente Ergebnisdruck bringt es in der Praxis mit sich, dass Projekte keine Orte für einen ergebnisoffenen Diskurs sind. Bekannte Lösungen aus anderen Umfeldern sind beliebt und letztlich baut auf diese Wiederverwertung das Geschäftsmodell aller Unternehmensberatungen fundamental auf. Alles, was Zeit kostet, muss schon gute Argumente haben. Schnell bekannte Lösungen zu wählen und auszuarbeiten steht deutlich über dem Anspruch, diese Lösungen durch ein empathischen Verständnis der Eigenheiten der Kunden-Organisation auf Wirksamkeit und Umsetzbarkeit zu überprüfen. Ein solcher Diskurs mit dem Anspruch der inhaltlichen Konzeptqualität erzeugt keinen Mehrwert, wo Außenwirkung und Geschwindigkeit die Projektzielsetzung faktisch dominieren (siehe Teil I).
AUTOPOIESE_Reproduktion durch Selbst-Selektion
Typen, welche einen solchen Diskurs aufgrund einer reflektierten ("multi-perspektivischen") Denkweise anstoßen oder einfordern, entsprechen demnach nicht der üblichen Arbeitsweise, damit also nicht dem Habitus und finden sich so schnell am Rande des Sozialraums wieder. An diesem Punkt kann die individuelle Entscheidung getroffen werden, sich dem Habitus anzupassen, selbst den Habitus nach den eigenen Werten verändern bzw. beeinflussen zu wollen oder am Ende den Sozialraum wieder zu verlassen. Nicht die gesamte hohe Fluktuation der Berater ist auf das Up-or-Out zurückzuführen.
AKTEURE_Die Dominanz der Etablierten
Erfolgreich sind - vereinfacht - also vor allem diejenigen, welche in den Kategorien Geschwindigkeit und Außenwirkung hoch punkten. Andere, weniger eindeutige Messgrößen erhalten keine Wertschätzung bei den Kunden des Top Managements und folglich den eigenen Senior Partnern. Diese Typen also, die nach 5-8 Jahren noch da und zum Senior Manager aufgestiegen sind, sind auch die, die den Habitus der Premiumberater am meisten prägen. Denn das Recruiting der Unternehmensberatungen weist noch eine Eigenheit auf, welche diese Reproduktion bestimmter homogener Typen noch weit über die normale Geschwindigkeit eines solchen autopoietischen Prozesses hinaus erhöht hat.
Hochgeschwindigkeits-reproduktion der Monokulturen
Monokulturen dienen in der Land- und Forstwirtschaft der Effizienzsteigerung und Ertragsmaximierung. Sie können aber auch Anfälligkeiten bei der Widerstandskraft gegen unvorhergesehene Veränderungen mit sich bringen (Resilienz). Nicht anders ist es bei den Premiumberatern. Effizientes Arbeiten bedeutet vor allem schnell, produktiv und störungsfrei zu arbeiten. Arbeit ist der Input - die eigene Ausgabenseite. Die Maximierung der Einnahmenseite brachte den Fokus auf das Top Management mit sich, aufgrund deren Budgethoheit in Kombination mit der häufigen hohen Dringlichkeit der Aufgaben.
AUTOPOIESE_Reproduktion durch Monokultur-Recruiting
Das Recruiting war und ist in dieser personenzentrierten Branche der Ermöglicher der Veränderung, damit aber auch der Beschleuniger der Homogenisierung. Bestimmte Ansätze und Prozesse können beispielhaft die Mechanismen beschreiben, die zu einer sukzessiven Reduzierung der Heterogenität der Typen geführt hat.
Sozialkompetenz ist mehr als gutes Benehmen.
Beispielsweise hat die Konzentration auf Fokus Universitäten und Lebensläufe starken Einfluss auf die Sozialauswahl der Berater. Dies hat sehr eindeutige Folgen für den Zugang der eigenen Beraterschaft zu der Kundenorganisation, wenn es darum geht, die Lebenswelten deren Mitarbeiter zu verstehen.
Dass ein Verständnis für Bedürfnisse, Herausforderungen, Probleme und Erwartungen der Kundenmitarbeiter, welche aufgrund der spezifischen Branche vielleicht noch zu einem hohen Prozentsatz nicht-akademische und niedrige Bildungsabschlüsse aufweist, eine anspruchsvolle Kompetenz ist, die vor allem mit der Erfahrung in entsprechenden sozialen Umfeldern einhergeht, ist keine verbreitete oder wertgeschätzte Erkenntnis im Berater-Recruiting.
Die negativen Korrelationen charakterlicher Eigenschaften und individueller Fähigkeiten, welche der statistische Grund dieser Homogenisierung sind, sind nicht bewusst. Der Anspruch nach Diversifizierung wird zwar formuliert, am Ende aber recht dilettantisch verfolgt. Die häufig beschriebenen "Exoten" (vor allem im Recruiting-Marketing) sind nämlich nur "Exoten im Fach" und nicht im Typus, bleiben alle anderen Kriterien bei der Auswahl gleich. Auch die Wichtigkeit dieser Unterscheidung ist nicht bekannt.
Verstärkt wird diese Reproduktion durch die verbreitete Praxis, die Auswahlentscheidung fast vollständig den Beratern zu überlassen. Nicht selten entscheiden sogar diejenigen, die akut jemanden für das eigene Projekt suchen und der junge Interviewte findet sich kurz nach dem Bewerbungsgespräch schon auf dem Projekt der Interviewers. Diese Praxis erschwert natürlich stark eine Planung der eigenen Beraterschaft mit dem Anspruch der Diversifikation.
Empathie ist mehr als nur Sozialkompetenz.
Der Glaube an die omnitalentierten eigenen Berater geht in Kombination mit deren Unwissenheit um psychologische und soziale Aspekte von Organisationen so weit, dass man die Experten im Haus - die eigene HR Abteilung - von der Kompetenz entbindet, eine ganzheitliche Personalplanung umzusetzen. Wieder dominiert die Projektarbeit und deren kurzfristige Perspektive den Anspruch an Personal und Prozesse.
FAZIT
Nach all den Jahren der Optimierung der Beratungsdienstleistung für das gehobene Management hat dies nicht nur dazu geführt, dass die viel erwähnten empathischen, kreativen, sozial-psychologischen Fähigkeiten bzw. eine emotionale Intelligenz aus dem Talentpool sukzessive entfernt wurden. Spätestens durch die Selbstselektion derer, die solche Ansätze wichtig finden aber im Sozialraum keine Wertschätzung dafür fanden, existiert in den großen Beratungshäusern niemand mehr, der noch um die Wichtigkeit, Funktionsweise und Recruitingansätze zum Auffinden auf diese Weise Talentierter weiß.
Die großen Beratungshäuser haben also großen Nachholbedarf, was die Diversifikation von Fähigkeiten innerhalb ihrer Beraterschaft angeht. Sie wissen es nur scheinbar nicht.
Kennen Sie das Problem? Es geht auch anders! Sprechen Sie uns an!
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